Titelblatt des Buchs
Reginald Ferber Information Retrieval
Suchmodelle und Data-Mining-Verfahren für Textsammlungen und das Web

Position im Angebot Information Retrieval -> Wissensgewinnung mit Data-Mining-Methoden
Stichwörter dieser Seite Psychologie, Lernen, Verhaltensdisposition, Erfahrung, Reifung, Entwicklung, Gedächtnis, Lernforschung, Wissen, Kennen, Können, künstliche Intelligenz, KI, Üben, Generalisierung, Kognitionspsychologie, Gedächtnispsychologie, Cognitive Science
Navigation Zurück ]    [ Inhalt ]    [ Stichwörter ]    [ Feedback ]    [ Home ]

2.2: Lernen

In der Psychologie bezeichnet man Lernen als eine Veränderung von Verhaltensdispositionen durch Erfahrung. Man spricht von Verhalten und nicht von Wissen, weil nur Verhalten beobachtet werden kann: Wissen kann nur durch Verhalten für andere manifest werden. Man spricht von Verhaltensdisposition, also der Fähigkeit oder Möglichkeit, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, weil ein Lernvorgang auch stattfinden kann, ohne dass das entsprechende Verhalten direkt gezeigt wird.

Der Einfluss von Erfahrung grenzt Lernen von Vorgängen wie Reifung oder Entwicklung ab. Die (mehr oder weniger) dauerhafte Veränderung der Verhaltensdisposition beruht auf Veränderungen im Gedächtnis bzw. der Gedächtnisinhalte; daher ist Lernforschung immer eng mit Gedächtnisforschung verknüpft.

Lernen kann also dadurch charakterisiert werden, dass sich eine Verhaltensdisposition, d.h. die Fähigkeit oder Möglichkeit, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, durch einen äußeren Einfluss ändert, ohne dass es sich dabei primär um eine mechanisch-körperliche Veränderung handelt. Das kann z.B. die Fähigkeit sein,

  • auf eine Frage oder einen Satz in einer Fremdsprache zu reagieren, nachdem man einen Sprachkurs besucht hat,
  • aus einer Folge von Buchstaben ein Wort oder einen Satz vorzulesen oder eine bestimmte Art von Rechenaufgaben zu lösen, nachdem man die Grundschule besucht hat,
  • einen Gegenstand mit einem Wort zu bezeichnen, nachdem man beobachtet hat, dass andere dieses Wort für den Gegenstand verwenden,
  • auf einem Fahrrad zu fahren, nachdem man es einige Male (erfolglos) versucht hat,
  • als Ratte schneller den richtigen Weg durch ein Labyrinth zu finden, nachdem richtiges Durchlaufen des Labyrinths belohnt wurde,
  • als Hund auf einen Signalton hin Speichel abzusondern, nachdem der Signalton vorher zusammen mit Nahrung aufgetreten war (klassische Konditionierung).

Umgangssprachlich bezeichnet man das Ergebnis eines Lernvorgangs beim Menschen als

  • Wissen, wenn es sich um sprachlich-begriffliche Fähigkeiten handelt ("Ich weiss, wie ich zum Luisenplatz komme"),
  • Kennen, wenn es sich um sinnliche Wahrnehmungen handelt ("Ich kenne den Luisenplatz"),
  • Können, wenn es sich um motorische Fähigkeiten handelt ("Ich kann mit dem Fahrrad fahren").
Diese etwas umständliche Art, Lernen zu definieren, zeigt einen wichtigen Unterschied zwischen einer empirischen Wissenschaft wie der Psychologie und einer Ingenieurwissenschaft wie der Informatik. Während die Letztere sich die Modelle und Strukturen vorgibt, die sie erforscht, muss die Erstere versuchen, die im Alltagswissen und in der Umgangssprache verwendeten Begriffe so zu präzisieren und zu systematisieren, dass diese beobachtete Phänomene beschreiben und sie einer wissenschaftlichen Erforschung erschließen. Dabei steht zunächst die Beschreibung der Phänomene durch Beobachtung und Experimente im Vordergrund, und die Erklärung im Sinne eines kausalen Modells ist erst der zweite (oder n-te) Schritt.

Die Forschung zur künstlichen Intelligenz (KI) bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ansätzen. Häufig werden die Aufgaben und insbesondere die erwarteten Lösungen der Aufgaben zwar am menschlichen Verhalten orientiert, dann aber eher ad hoc formuliert und nicht empirisch ermittelt. Es werden Modelle entwickelt, die einzelne Phänomene z.B. aus dem Bereich des Sprachverstehens so simulieren, wie sie die Untersuchenden verstehen. Sprache - insbesondere ihr syntaktischer Aspekt - ist ein beliebtes Forschungsgebiet, weil es dort anerkannte Regeln gibt.

Diese Regeln werden in der Umgangssprache allerdings häufig missachtet - trotzdem klappt die Verständigung im Allgemeinen ziemlich gut (oft sogar besser, als wenn sich die Sprechenden an die Regeln halten). Genau diese Fähigkeit der "natürlichen Intelligenz", mit fehlerhaften, ungenauen und vagen Objekten umzugehen, ist aber eines der Hauptprobleme der (symbolorientierten) KI. Um dieses Problem zu untersuchen, kann man die verschiedenen Arten des Lernens betrachten und versuchen, die Prozesse nachzubilden, von denen man vermutet, dass sie die Robustheit der "natürlichen" Intelligenz gegenüber "Inkonsistenzen", "Vagheit" und "Fehlern" bewirken.

Die Definition und die angeführten Beispiele zeigen zunächst, dass Lernen ein sehr breiter Begriff ist. Weiter zeigen sie, dass Lernvorgänge vor allem durch die gestellten Aufgaben (das Lernmaterial) und die erwarteten bzw. beobachteten Verhaltensänderungen beschrieben werden. Über die Änderungen im lernenden System können nur Modellannahmen entwickelt und experimentell überprüft werden, sie können in der Regel nicht direkt beobachtet werden. Die zu prüfenden Modelle können von einfachen Reiz-Reaktions-Verknüpfungen (wie beim klassischen Konditionieren) bis hin zu komplexen Informationsverarbeitungsmodellen reichen.

In diesem Sinn kann man Lernprozesse unter einem Input-Output-Schema betrachten, also die Frage stellen: Welche Erfahrungen führen zu welchen Verhaltensdispositionen? Nach dieser Fragestellung ist der einfachste Fall das Lernen eines konkreten Verhaltens durch Üben, also z.B. wenn Menschen lernen Fahrrad zu fahren, einen Stab zu balancieren und die Übersetzungen von Wörtern einer Fremdsprache zu nennen, oder wenn Ratten lernen, ein Labyrinth schnell zu durchlaufen: Es wird das Verhalten geübt, das auch abgeprüft wird.

Die nächst komplexere Aufgabe wäre nach diesem Schema das verallgemeinernde Lernen. Es werden Beispiele wahrgenommen, die den später zu lösenden Aufgaben zwar ähnlich, aber nicht mit ihnen identisch sind, die also eine Generalisierung verlangen. Solche Aufgaben sind z.B. das Lösen bestimmter Arten von Rechenaufgaben oder das Kategorisieren von Objekten anhand von Beispielen, die untereinander ähnlich sind.

Während man bei solchen Aufgaben noch versuchen kann, sie mit einfachen Reiz-Reaktions-Verknüpfungsmodellen zu simulieren, müssen für andere Aufgaben komplexere Informationsverarbeitungsmodelle angenommen werden. Mit solchen Modellen kann man Aufgaben angehen, bei denen Regeln oder Theorien gelernt werden, die dann an Beispielen überprüft werden. Schwieriger erscheinen die Aufgaben, bei denen Beispiele als Lernmaterial vorgegeben werden und eine "Theorie" - also z.B. Regeln, die aus Beispielen gefolgert werden müssen - abgeprüft wird. Diese Aufgaben erfordern die Konstruktion eines Modells oder einer Theorie.

Pfeil als Kennzeichnung einer Unterueberschrift Abbildung 48: Deduktives und probabilistisches Schließen

Aufgrund dieser theoretischen Überlegungen kann man Rückschlüsse auf die Lernvorgänge versuchen. So könnte man annehmen, dass beim Lernen von Beispielen keine Modellbildung notwendig ist und deswegen - nach dem Prinzip des minimalen Aufwands - auch nicht stattfindet. Empirische Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass diese Annahme so nicht haltbar ist. So lernen z.B. Ratten schneller, ein Labyrinth zu durchschwimmen, wenn sie vorher gelernt haben, es zu durchlaufen, obwohl die motorischen Abläufe bei Laufen und Schwimmen ganz verschieden sind. Auch Versuchspersonen geben auf Befragen im Allgemeinen an, dass sie bei Lernexperimenten, in denen Wortpaare gelernt werden mussten, nach Regeln gesucht haben, nach denen die Paare zusammengestellt waren. Das heißt, dass sie Verallgemeinerungen vorgenommen haben, ohne dass das explizit von ihnen verlangt worden wäre.

Vermutlich hat es sich im Laufe der Evolution als nützlich erwiesen, Regeln, Modelle oder Theorien über die Umwelt zu bilden, um deren Verhalten bzw. die Konsequenzen des eigenen Verhaltens in ihr vorherzusagen. Wie diese Verarbeitung der Umwelteinflüsse allerdings aussieht und ob sie mit den Regeln der mathematischen Logik, die zum Teil die gleiche Terminologie verwendet wie die Alltagssprache, übereinstimmt, ist dadurch noch nicht geklärt. Tatsächlich akzeptieren z.B. ca. 80% der befragten Versuchspersonen eine logisch falsche, aber probabilistisch einsichtige Folgerung der Art, wie sie in Abbildung 48 gezeigt ist.

Die Untersuchung der Prozesse, die an der Lösung dieser Aufgaben beteiligt sind, ist Thema der Kognitions- oder Gedächtnispsychologie bzw. der Cognitive Science. Im KDD werden aber im Allgemeinen nicht dieselben Methoden und Maßstäbe verwendet wie in diesen Disziplinen, sondern es werden lediglich allgemeine Prinzipien und Modelle übernommen.

Pfeil als Kennzeichnung einer Unterueberschrift 2.2.1: Lernen als Informationsverarbeitung

Pfeil als Kennzeichnung einer Unterueberschrift 2.2.2: Automatisches Lernen aus Beispielen

Navigation Zurück ]    [ Inhalt ]    [ Stichwörter ]    [ Feedback ]    [ Home ]
Position im Angebot Information Retrieval -> Wissensgewinnung mit Data-Mining-Methoden
Dieser Abschnitt und seine Unterabschnitte
Inhalt Stichwörter in der Reihenfolge ihres AuftretensStichwörter alphabetisch sortiert
2.2Lernen
Abb. 48 Deduktives und probabilistisches Schließen
2.2.1Lernen als Informationsverarbeitung
Abb. 49 Beispiele der verschiedenen Schlussfolgerungen
2.2.2Automatisches Lernen aus Beispielen
2.2.2.1Faktendatenbanken
Psychologie, Lernen, Verhaltensdisposition, Erfahrung, Reifung, Entwicklung, Gedächtnis, Lernforschung, Wissen, Kennen, Können, künstliche Intelligenz, KI, Üben, Generalisierung, Unabhängigkeit, Kognitionspsychologie, Gedächtnispsychologie, Cognitive Science, deduktiver Prozess, Aussage, abduktiver Prozess, induktiver Prozess, Wissensgewinnung, Knowledge Discovery in Databases, KDD, Information Retrieval, Data Mining, DM, Faktendatenbank, Faktendatenbank, Attribut, Wertebereich, Attribut-Wert-Paar, Tupel, Wertebereich abduktiver Prozess, Attribut, Attribut-Wert-Paar, Aussage, Cognitive Science, Data Mining, deduktiver Prozess, DM, Entwicklung, Erfahrung, Faktendatenbank, Faktendatenbank, Gedächtnis, Gedächtnispsychologie, Generalisierung, induktiver Prozess, Information Retrieval, KDD, Kennen, KI, Knowledge Discovery in Databases, Können, Kognitionspsychologie, künstliche Intelligenz, Lernen, Lernforschung, Psychologie, Reifung, Tupel, Üben, Unabhängigkeit, Verhaltensdisposition, Wertebereich, Wertebereich, Wissen, Wissensgewinnung

Diese Seiten sind urheberrechtlich geschützt. Die Verantwortung für die Inhalte und die Rechte der Online-Version liegen beim Autor Reginald Ferber, Münster (Westf). Die Rechte der gedruckten Version beim dpunkt.verlag, Heidelberg. Die Weiterverwendung von Texten oder Abbildungen - auch auszugsweise - ist ohne die schriftliche Zustimmung des Autors Reginald Ferber bzw. des dpunkt.verlags nicht gestattet.

Es wird darauf hingewiesen, dass die verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken-, oder patentrechtlichem Schutz unterliegen. Alle Angaben und Programme wurden mit großer Sorgfalt kontrolliert. Trotzdem kann keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art übernommen werden, die sich im Zusammenhang mit der Nutzung dieser Seiten ergeben.

Diese HTML-Datei wurde am 27-10-2003 erzeugt.